G u t a c h t e n b e r i c h t  zur  therapeutischen  Arbeit

   Mit einem Mann aus Jordanien; 38 Jahre alt; seit fast 20 Jahren in Deutschland; verheiratet mit einer Landsfrau; 3 Kinder, 3 bis 9 Jahre alt; keine abgeschlossene Berufsausbildung.

    Symptome:

   "Seit gut einem Jahr ist meine Frau der Meinung, dass was mit mir nicht stimmt. Ich habe seltsame Zustände von Zittern am ganzen Körper; wenn sie mich nachts am Rücken berührt, dann kriege ich minutenlang so eine Art Schüttelfrost. Oft bin ich auch tagsüber müde und schlapp, obwohl ich lange genug geschlafen habe. Ich schiebe, ohne vernünftigen Grund, viele Dinge vor mir her und hänge passiv, lust- und freudlos herum. Die Mediziner haben körperliche Ursachen ausgeschlossen."




    Lebensgschichte:

   Herr M. ist Jordanier mit deutschem Pass (seit 3 Jahren) und lebt seit dem 18. Lj. zum überwiegenden Teil in Deutschland (Studium). In Madaba ist er als drittältester von zehn Geschwistern bei den Eltern aufgewachsen. Die Mutter habe zu ihm, so Herr M. zur Lebensgeschichte, eine besondere Beziehung gehabt, deren Grund er nur aus Erzählungen kenne: da er in früher Kindheit sehr schwer krank gewesen sei und monatelang sein Leben auf dem Spiel stand, habe die Mutter ihn aus Sorge in besonderer Weise mit Zuneigung verwöhnt. Die Mutter schildert er als opferbereit, fleißig, sparsam, unendlich kinderlieb und ihrem Manne untertan.
Ausserdem sei er ein hübscher, gescheiter Kerl gewesen, der es schon als 5-jähriger verstanden habe, im Mittelpunkt einer Gesellschaft zu stehen und die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Auch sei er in der Schule sehr gut gewesen und habe es mit sehr guten Noten bis zum Abitur geschafft. So sei er wohl zum Star der Familie geworden, den der Vater, Staatsangestellter und nebenbei Landwirt, von alltäglichen Arbeiten, z.B. auf dem Feld, entbunden habe, damit er sich ganz der Bildung habe widmen können und später einmal dafür sorgen könne, dass die ganze Familie (noch) besser dastehe. Das gipfelt dann darin, dass der Vater ein Grundstück verkauft, damit dem Überflieger-Sohn ein Studium in Deutschland bezahlt werden kann.
Auch beim Vater, den er im übrigen als freundlich, streng, ernst und liebevoll beschreibt, fühlt er sich angenommen und in jeder Hinsicht unterstützt.
Ausser diesem auffälligen Sonderstatus mit Verwöhnung und Privilegien ergeben sich keine Hinweise auf Störungen des Umfeldes der frühen Entwicklung. Die Krisenerscheinungen der Gegenwart lassen sich auch erklären als Folge dieser Bedingungen der Persönlichkeitsentwicklung: Der verwöhnte Bub, dem alles nachgesehen wird und der als geistiger Überflieger gesehen wird, dem klarerweise eine privilegierte Rolle zusteht, ohne viel dafür tun zu müssen, der wird sich mehr und mehr selbst so sehen; in der Gegenwart der ehelichen Beziehung und der Berufsausbildung wird er sich an Situationen aufreiben (mit Symptomfolgen), die nicht in dieses persönliche Konzept passen.
Herr M. studiert in Deutschland Elektrotechnik. Während der Abschlußprüfungen gerät er in eine erste Angstkrise; es droht das Scheitern (das Image vom Überflieger würde definitiv Schaden nehmen; es drohen unabsehbare Veränderungen bei erfolgreicher Prüfung (Job, alleinige finanzielle Verantwortung für die Familie, Rückkehr nach Jordanien); er versucht, eine Verlängerung der Studienzeit durchzusetzen und scheitert am Regelwerk der Universität. Eine bittere Niederlage mit bedrohlichen Konsequenzen:
Der jungen Familie (inzwischen hat er mit seiner Frau drei Kinder) droht nun über Jahre die Abschiebung; während dessen wachsen Schulden an und sie versuchen, sich mit halblegalen Gelegenheitsjobs über Wasser zu halten. Jahre später gelingt es dem Herrn M., sich einen Teil seiner Studienleistungen in einem anderen Studienfach anrechnen zu lassen, das ihm evtl. auch mehr liegt: Wirtschaftsingenieur will er nun werden. Studiert erneut mit wiedererwachtem Elan und: scheitert wiederum während der zahlreichen Abschlußprüfungen; diesmal fällt er durch eine wichtige Teilprüfung.
Seine Motivation bricht nun ganz zusammen und er versinkt in Passivität, Selbstmitleid und Perspektivlosigkeit.
Parallel dazu gerät die eheliche Beziehung in eine Krise: Die Frau wendet sich emotional von "dem Versager" ab. Auf Unterstützung und anerkennende Aufmerksamkeit programmiert (s.o.) bricht nun eine entscheidende Stütze des Selbstwerts zusammen. War nach der Geburt des 1. Kindes das Sexleben schon auf "Sparflamme" zurückgegangen, so kommt es nun ganz zum erliegen. Das vertieft die Kränkung, hält er sich doch für den besten Liebhaber weit und breit. Auf den "grossen Wurf" ausgerichtet, verweigert er sich hartnäckiger Arbeit an kleinen alltäglichen Erfordernissen. Er muss mit ansehen, wie andere ("bestimmt nicht klüger als ich") ihn überholen (Examen abschließen, einen Beruf ergreifen) oder ahnen, dass andere Männer auch schon mal von ihren Frauen begehrt werden ("bestimmt nicht attraktiver als ich"). Er versteht die Welt nicht mehr und reagiert auf die Kränkungen seines Größen-Selbst mit einem dumpfen Stillstand und passiver Erwartung einer Lösung. Mit den genannten Symptomen kann er vor allem der Frau verdeutlichen, dass er "nicht anders kann". Diese ergreift nun die Initiative und schickt den Mann erst zu einem Neurologen und dann in die Praxis des Berichterstatters.



    Erstgespräch: 

   Zum Erstgespräch stellt sich ein gut gekleideter Mann vor, mit Zeichen einer mäßigen depressiven Verstimmung. Mit müden Augen schaut er einen leicht von Unten an (obwohl nicht viel kleiner als das Gegenüber); die Mundwinkel hängen, ebenso die Schultern. Er atmet schwer. Es kostet ihn sichtlich Kraft und Überwindung, beim Psycho gelandet, sich mit seinen Problemen zu offenbaren. Nach Überwindung der ersten Anlaufschwierigkeit blüht er dann (unter der Sonne aufmerksamer Zuwendung) regelrecht auf und berichtet in fast makellosem Hochdeutsch wortgewandt über sich und seinen Problemberg.
Antriebsminderung, Unlustvermeidung, Passivität, Müdigkeit, Muskelzucken, erhöhte Reizbarkeit, Unzufriedenheit und Hoffnungslosigkeit, sowie Angst vor einem Bruch der Ehe stehen im Mittelpunkt seiner Schilderungen.
Sprache ohne formale Auffälligkeiten; Orientierung in allen Qualitäten; kein Anhalt für Störungen des Bewußtseins oder der mnestischen Funktionen. Keine Wahnideen, keine Halluzinationen; suizidale Stimmungen kommen vor; keine konkreten Planungen in Richtung Suizid; Verlust der Bezugsperson (Ehefrau) dürfte das Suizidrisiko drastisch ansteigen lassen.

   In Becks Depressionsindex ergab sich ein Wert im Sinne einer "leichten Depression". Später, während einer depressiven Phase von einigen Tagen Dauer, ergab sich ein Wert im Sinne einer "mittelschweren Depression".
In den Persönlichkeitsskalen nach Sulz war der Wert für den narzisstischen Stil erhöht; einige andere Skalen waren ebenfalls leicht auffällig, allerdings ohne einen klaren Schwerpunkt.


    Verhaltensanalye:

    zu: Leistungsstörung, Angst, Passivität, depressiver Verstimmung


S   Ausser für eine gelegentlichen Nachhilfestunden für Kinder von Landsleuten hat der Pat. in den letzten drei Jahren keine bezahlte Arbeit ausgeführt. Die Familie macht Schulden; lebt z.T. von Zuwendungen aus Jordanien(!). Der Pat. ist nahezu perfekt in zwei Sprachen (arabisch, deutsch). Er bekommt das Angebot eines Dolmetscherbüros, für einige Wochen in den Vereinigten Arabischen Emiraten als Dolmetscher und Begleiter eines deutschen Ausbildungsteams zu arbeiten.


E  Ich bin eigentlich der Beste und müsste schon ganz woanders stehen. Mir steht jede nur erdenkliche Unterstützung und Zuwendung zu. Ohne die geht bei mir Nichts.


O  Erhöhtes Niveau psychophysischer Erregung


Vkogn. Wie kommen die auf solch eine Idee!? Mit solchen Sachen fang ich erst gar nicht an. Das ist unter meinem Niveau! Andererseits: Es ist meine Schmach, dass ich für meine Familie so wenig Geld ranschaffe.
(wahrscheinlich unbewusst: Zweifel an der eigenen Kompetenz für die Aufgabe, Verunsicherung über das Geforderte)
Die Frau darf von all dem nichts wissen, sonst macht die mich ganz nieder!
Aber was? Das steht ihr doch gar nicht zu!

Vem. Empörung, Selbstüberhöhung, Frustration, Verunsicherung, Angst.

Vphys. Anstieg der Erregung.

Vverb. Sagt bei dem Büro ab.

C-k,i Erleichterung.

C-k,e Konfrontation mit der Frau aus gegebenem Anlass vermieden.

C+k,i,e Macht es sich in der überschaubaren Welt daheim gemütlich.

C-l,i,e Zweifel und harte generalisierte Selbstkritik, Frustration über entgangene soziale und    materielle Verstärker, Hoffnungslosigkeit.
Müdigkeit und Passivität dämpfen oder verhindern das Wiederauftreten ähnlich heftiger Turbulenzen. 
Die Distanz zur Ehefrau wird eher größer. Zunahme der Verstimmung.




Diagnose:

    Depressive Störung mit Ängsten

    Persönlichkeit mit Betonung des narzisstischen Stils


    Therapieplan:

  1. Aufbau und Stabilisierung eines tragfähigen therapeutischen Bündnisses. Interventionsmethoden: Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte, Akzeptanz, Problem- und Verhaltensanalyse, Zieldefinition.

  2. Auf- und Verarbeitung der Lebensgeschichte; Verbesserung des Selbstbewusstseins und der Selbstakzeptanz. Interventionsmethoden: Biographisches Interview, Verbalisierung und Akzeptanz emotionaler Erlebnisinhalte; funktionale Analyse der aktuellen Frustrationen auf dem Hintergrund alter Erwartungshaltungen; Rollenspiel.

  3. Abbau des narzisstisch verzerrten Selbstbildes eigener Fähigkeiten. Förderung eines realistischen Selbstbildes, speziell produktiver Umgang mit Fehlern, Misserfolgen. Interventionsmethoden: Gestufte Experimente und Realitätstests zur Selbstexploration und -bewertung; kognitive Umstrukturierung.

  4. Abbau der Leistungs- und Prüfungsangst; Verbesserung der Lernmethoden für "schwierige Fächer und Anforderungen". Interventionsmethoden: Entspannungstraining nach Jacobson; kognitive Umstrukturierung; Instruktion und Übung.

  5. Abbau der Störungen im Kontaktverhalten; Abbau der egozentrischen Grundhaltung; Abbau der passiven Erwartungshaltung; Aufbau von Empathiefähigkeiten und aktivem Kontakt. Interventionsmethoden: Situationsanalyse mit Herausarbeitung und Disput irrationaler Kognitionen, Rollenspiel, Verhaltensübungen, Provokation in der Therapiesituation.




    Bisheriger Therapieverlauf:

   Der Aufbau eines tragfähigen therapeutischen Bündnisses gestaltete sich zunächst unproblematisch insoweit, als Herr M. sich zwar einerseits immer wieder gern selbstüberhöhend in Szene setzte, andererseits aber auch bereit war, seine Misserfolge, destruktiven Maschen, selbstgeschaffenen Sackgassen und Defizite offen und ungeschminkt zu benennen und anzuerkennen; anfangs begleitet von starken Schuld- und Minderwertigkeitsgefühlen. Die Sitzungen bekamen dadurch etwas entlastendes für den Pat.: Er hatte einen Raum, in dem er seine Versteck- und Showspiele allmählich aufgeben konnte, ohne dramatische Konsequenzen vom Gegenüber. Mit einer Mischung aus annehmendem Verstehen, Vorwegnahme, milden humorigen Bemerkungen, sokratischem Hinterfragen und direkter Konfrontation wurde die narzisstische Show aufgelockert: Herr M. begann zu schmunzeln, wenn er mal wieder weit ausholen wollte, um seine eher desolate Lage als eigentlich unverdient hinzustellen.
Übungen zur Erweiterung des Kontaktverhaltens in der ehelichen Beziehung fielen auf recht fruchtbaren Boden; insbesondere war der Pat. völlig überrascht, wie er anders als durch "Leistung und Erfolg" Zuneigung auslösen konnte.
Im mittleren Abschnitt der bisherigen Kurzzeittherapie kam es zu einer Stagnation, als es um den passiven Widerstand gegen nützliche und förderliche Aktivitäten ging. Etwa mit der 20. Sitzung kam es zu einer ähnlichen Situation, wie in der VA beschrieben: ein Angebot des Dolmetscher-Büros. Daraus wurde eine intensive Konfrontation mit dem Ausweichverhalten und dem Vermeiden konstruktiver Erfahrungschancen, incl. der Ankündigung des Th., eine Fortführung der Sitzungen auszuschließen, wenn solche Chancen vom Pat. ausgelassen werden. Nach ein paar Wochen Sendepause meldete sich Herr M. in die VAE ab und kehrte zurück wie von einem Wellness-Urlaub. Seit langem ausgebliebene Erfolgserlebnisse in Kernkompetenzen: Sprache und multikulturelle Bezüge (Dolmetscher auf mehreren Ebenen). Das hat die bis dahin immer noch vorherrschende Passivität beendet und einen veränderten Selbstanspruch an das eigene Tun gestärkt: "Ich muss akzeptieren: in kleinen Schritten in die richtige Richtung gehen und nicht gleich das ganz große Rad drehen wollen, das bringt viel mehr als ich geglaubt habe ... ich bin sehr zufrieden, obwohl mein Honorar nicht sooo irre hoch war ...", so der Pat. in seiner Zwischenbilanz.

    Er sieht sich nun – wieder hoffnungsvoller und weniger müde, aber noch unsicher in Manchem - auf einem neuen Weg der persönlichen Entwicklung und wünscht sich dafür eine Fortführung der therapeutischen Begleitung.

Diese sollte fortgeführt werden, bis eine reale Aussicht auf Integration ins Berufsleben besteht, mit oder ohne abgeschlossenem Studium, jedenfalls mit Bezug auf die sicherlich auch vorhandenen Potenziale des Herrn M.

   Der Pat. hat therapeutische Hausaufgaben mit guter Motivation für sich zu nutzen gewusst. Er ist regelmäßig und pünktlich zu den vereinbarten Sitzungsterminen erschienen.
Für die Generalisierung und Stabilisierung des bisher Erreichten und für die Bearbeitung der bisher noch nicht angegangenen Therapieteilziele sind 20 weitere Einzelsitzungen à 50 Minuten notwendig. Die Sitzungen werden zunächst weiter in wöchentlichen Abständen durchgeführt. Gegen Ende der Behandlung werden die Abstände vergrößert. Bei mittelfristiger therapeutischer Begleitung ist die Prognose günstig.